Quelle: http://www.rheintaler.ch/ostschweiz/stgallen/rheintal/rt-or/Das-Glueck-am-seidenen-Kragen;art164,2932221

Das Glück am seidenen Kragen


Die Kristallhöhle Kobelwald bietet auf hundertzwanzig MeternKristalle, Tropfsteine und Höhlen-Atmosphäre, dann ist für TouristenSchluss. Dass es noch weitergeht, wissen nur Höhlenforscher. Wir habensie begleitet.

SAMUEL TANNER

KOBELWALD. Die Rückwege sind immer am gefährlichsten. Ob das nunder Abstieg vom Mount Everest oder der Ausstieg aus der KristallhöhleKobelwald ist.

Ich kauere auf einem Felsen, es ist kalt, es ist nass, und meine Knieschmerzen. Unsere Gruppe ist seit mittlerweile drei Stunden im hinterenTeil der Kristallhöhle Kobelwald, es ist kurz nach 21 Uhr. Jetzt nurnoch diese letzte heikle Passage überwinden: Rechts der Abgrund, linksdie Wand, ich muss durch die Mitte, muss den rechten Fuss auf einenFelsvorsprung setzen und mich dann runter gleiten lassen. So, wie ich eszuletzt immer gemacht habe. – So, wie es immer geklappt hat.

Doch jetzt bin ich nachlässig, ich rutsche ab, rechts ist der Abgrund.

Höhlenforschen ist kein Sport, von dem man vorher der Mutter erzählen sollte. Zumindest nicht beim ersten Mal.

Unterschrift als Warnung
Drei Stunden vor der heiklen Passage im hinteren Teil der Höhlestehen wir draussen, vor dem Haupteingang. «Tauchen Sie ein in einefaszinierende Unterwelt!», hatte ich auf der Internetseite gelesen.

Es ist kurz nach 18 Uhr, und bei den Festbänken, wo üblicherweise dieKristall-Touristen auf ihre Führung warten, verwandeln sich geradeZivilisten in Extremsportler. Höhlen-Präsident Felix Kobler hält mireinen Vertrag unter die Nase. Er spricht von Versicherung, Unfall undHaftung. So recht höre ich nicht zu. Ein Fehler? Die Unterschrift hättemich wohl warnen sollen.

Ich habe vorerst andere Sorgen. Muss einen roten Overall über diewährend zehn Tagen Zivilschutz gestählten Kampfstiefel ziehen. – Nichtzum letzten Mal an diesem Abend sollte ich schwitzen.

Nun stellen sich die Höhlenforscher vor. Die Leitwölfe sind Sebastianund Sebastian. Kuster und Högger. Beides Pragmatiker, mehr Buchhalterals Bruce Lee – zumindest was ihr Hobby betrifft. Högger sagt: «Wer inder Höhle Adventure erlebt, der macht etwas falsch. Sicherheit ist dasoberste Gebot.» Der Rest der St. Galler Truppe, an diesem Abend sind esweitere vier Männer und eine Frau, sieht das genauso.

Mein Puls ist tief, ich realisiere noch nicht, auf was ich mich daeingelassen habe. Die Höhlenforscher laden sich schweres Gepäck auf.Säcke mit Material – Taucheranzug, Proviant, eine auf die Höhleabgestimmte Fotokamera.

Nur Höhlen-Präsident Kobler und mir bleibt zusätzlicher Ballasterspart. Er war schon einmal in dem für Touristen abgeschlossenen Teil –«damals muss ich noch schlanker gewesen sein», wird er später witzeln.

Vertrag unterschrieben, Overall an, Helm auf, Vorher-Foto gemacht.Die ersten hundertzwanzig Meter sind wunderbar: Links und rechts dieKristalle, der Gang ist gut ausgebaut, nur sich da und dort zu bückenist von Vorteil.


Heikle Stelle für Felix Kobler: Der Präsidentdes Verkehrsvereins ist Chef der Höhle und für einmal ebenfalls Teilder Forschungs-Expedition.

Dann kommen wir zum eigentlichen Abschluss der Höhle – dieabgeschlossene Türe zeigt sämtlichen Kristall-Touristen das Ende auf.Für die Höhlenforscher, für Sebastian und Sebastian, beginnt hier derSpass (oder der Ernst). Sie sagen: «Andere spielen Golf, wir erforschenHöhlen. So einfach ist das!»

Seit November 2009 gehört die Kristallhöhle zu den regelmässigenZielen der St. Galler Höhlenforscher und -taucher. Sie hätten ein Objektin der Nähe gesucht. Eine nicht allzu anspruchsvolle Höhle fürBegehungen nach dem Feierabend, sagt Sebastian Kuster. Felix Kobler undseine Kollegen waren zuerst skeptisch und handelten entsprechend: Sieverlangten einen finanziellen Beitrag und schickten bei der ersten Tourden Höhlenwart mit.

Mittlerweile ist das Vertrauen da, sind die Touren gratis –Sebastian, Sebastian und ihre Mitstreiter nehmen keine unnötigenRisiken, lassen keinen Abfall in der Höhle liegen. Und die Truppeerbringt eine Gegenleistung: Sie erforscht die Höhle! An ihremvorläufigen Ende befindet sich nämlich ein Siphon.

Und so schleppen Kuster, Högger und Co. bei jeder Tour dieTaucherausrüstung mit. Sie tauchen ab, messen den Siphon aus, liefernverlässliche Daten und sind gespannt, ob und wie die Kristallhöhleweiter verläuft.

Alles fernab der Touristen.


Der Autor als Höhlenforscher: Die Füsse waren schon nach zwei Minuten komplett nass.

Auf allen vieren vorwärts
Dies ist auch das heutige Ziel. Sebastian Kuster will neue Datenerforschen. Für Felix und mich ist aber alleine der Aufstieg zum Siphoneine Herausforderung.

Wer schon einmal unter einem Kleiderschrank den entwischtenPingpong-Ball gesucht hat, kennt die Platzverhältnisse in diesem Teilder Höhle. Auf allen vieren arbeite ich mich vorwärts. Felix kommentiertmal: «Heute bist du der kriechende Reporter.» Bereits nach zwei Minutentriefen meine Socken – Kampfstiefel hin oder her. Ich lerne: ImErnstfall hätten die Schweizer Soldaten augenblicklich nasse Füsse.

Felix und ich befinden uns am Ende der Gruppe, Sebastian Kusterheisst der moralische Turbo-Booster. Gäben die Batterien der Stirnlampeihren Geist auf, die Chance, hier wieder raus zu kommen, ginge gegenNull.

Wir kraxeln Wasserfälle hoch und überwinden Passagen, wo die obereFelsschicht auf den Rücken drückt. Einmal frage ich: «Was passiert, wennFelsen einstürzen?»

Sebastian lächelt müde. Dann sagt er: «Auch die kleinste Entwicklung des Gesteins dauert in einer Höhle Jahrhunderte.»

Als wir nach einer Dreiviertelstunde oben ankommen, verzehrt der Restder Gruppe bereits Biberli – der Znacht der Höhlenforscher.Sebastian Kuster macht sich für den Tauchgang bereit. Zu seinerAusrüstung gehört ein spezielles Atem-Zufuhr-Gerät. Es löst keine Blasenaus und kostet 15 000 Franken. Die Höhlenforscher lassen die Ausrüstungjeweils in der Nähe des Siphons liegen. – (Hier stiehlt niemand.)

Für zwei Taucher ist es zu eng
Dass das Atemgerät keine Blasen auslöst, ist wichtig. Denn: Bei derkleinsten Irritation wird im Siphon sofort Staub aufgewirbelt und demTaucher die Sicht getrübt. Sebastian kann deshalb nur kurz runter –heute verlegt er Seile. Diese sollen helfen, bald genauere Daten überdie Kristallhöhle vorweisen zu können.

Nach 40 Minuten taucht Sebastian Kuster (er taucht alleine, fürweitere Taucher ist es zu eng) wieder auf. Seine Kollegen haben die Zeitgestoppt. Wäre er nicht planmässig aufgetaucht, sie hätten sofort nachihm geschaut.

Nach den Biberli folgt der Ausstieg. Der gefährlichste Part dieserExpedition. Die Beine schmerzen, die Konzentration ist weg. Doch allesgeht gut, bis zu dieser einen Stelle. Rechts der Abgrund, links dieWand. Ich muss vorwärts, den Wasserfall überwinden – «schaue auf einensicheren Stand», höre ich Sebastian hinter mir noch sagen. Rechts istder Abgrund. Dann rutsche ich ab. Sofort packt mich Sebastian aber amKragen, die Füsse baumeln, ich atme auf. Mein Glück hing am seidenenKragen! Nun ist aber alles gerettet.

Fehlt noch das Nachher-Foto.

Ab Ostersonntag öffnet der Verkehrsverein die Kristallhöhle immer sonntags und an Feiertagen von 11 bis 17 Uhr. Kontakt: www.kristallhoehle.ch

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